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Vom Mythos, nie genug Zeit zu haben - wie der 'Action Bias' unser Entwicklungspotential verhindert

Inspiriert durch das Gedicht 'Too busy' von Visakha, einer frühen Schülerin von Gautama Buddha (vor ca. 2000 Jahren)



In letzter Zeit taucht ein bestimmtes Thema immer wieder auf – wie eine beharrliche Melodie im Hintergrund des Organisationsalltags. In Gesprächen mit anderen Berater:innen zeigt sich, dass sie es auch oft hören: „Dafür haben wir keine Zeit“, vor allem, wenn es um Dinge geht, die nicht sofort sichtbare und messbare Ergebnisse liefern. Innerhalb von Organisationen fragen sich Menschen leise, wie sie überhaupt Raum für Reflexion, Lernen oder innere Arbeit schaffen sollen, wenn der Kalender schon jetzt aus allen Nähten platzt und niemand sich Zeit nehmen möchte, für die scheinbar stille Arbeit. Und selbst auf LinkedIn begegnen mir zur Zeit zahlreiche Beiträge um die gleiche unruhige Frage: Wie schaffen wir es, mehr Raum für anderes als reines Tun zu schaffen?


Es ist diese wachsende Bewusstheit für den sogenannten „Action Bias“ – diese zutiefst menschliche Tendenz, bei Unsicherheit oder Unbehagen sofort ins Handeln zu verfallen. Und gerade jetzt scheint sie überall zu sein.


"You say you're too busy. That there's never enough time."

[Du sagst, du bist zu beschäftigt.

Dass nie genug Zeit ist.]


Wie vertraut sind diese Worte inzwischen in den Fluren moderner Unternehmen. Und wenn nicht die Worte, dann zumindest die Einstellung und das Verhalten. Sie zeigen sich in Meetingräumen, in hastigen E-Mails, in den Gängen zwischen Terminen. „Keine Zeit zum Nachdenken, einfach machen.“ Es ist fast schon ein Erfolgssymbol, oder? Dieser unermüdliche Takt der Aktivität, die unaufhörliche Bewegung, die Fortschritt, Produktivität und Ergebnisse verspricht.


Aber lass uns – nur für einen Atemzug – innehalten und fragen: Was passiert hier eigentlich wirklich?



Die Verlockung des Action Bias

Im Business ist der "Action Bias" wie der Gesang der Sirenen. Konfrontiert mit Unsicherheit, greifen wir zum Tun. Im Zweifel: einen Plan machen, eine E-Mail schreiben, ein Projekt starten, den Kalender füllen.


Die Leere – die Pause – fühlt sich unangenehm an, ja fast gefährlich. Schließlich werden wir doch dafür bezahlt, zu liefern, voranzubringen, zu machen, oder?


Doch diese Handlungsorientierung, so gut sie gemeint ist, kann leise zur Fehlfunktion werden. Es ist wie ein Motor, der immer höher dreht, in der Annahme, Geschwindigkeit allein bringe ans Ziel – egal in welche Richtung. Je mehr wir tun, desto weniger Zeit scheint zu bleiben. Je voller unsere Tage werden, desto leerer fühlen sie sich manchmal an.



Die Illusion von „Nie genug Zeit“

"Nie genug Zeit...“ - dieser Satz ist so alltäglich, dass er fast unsichtbar geworden ist. Aber seien wir ehrlich, wie Visakha uns sanft einlädt: Ist das wirklich wahr? Oder haben wir einfach vergessen, innezuhalten, zuzuhören – nicht nur anderen, sondern auch uns selbst und dem, was wirklich gebraucht wird?


Wenn wir im Action Bias gefangen sind, verdrängen wir genau die Praktiken, die unserem Handeln Sinn geben könnten:


  • Innehalten, um zu spüren, was wirklich gebraucht wird

  • Zuhören – tief, nicht nur auf Worte, sondern auch auf das, was nicht gesagt wird

  • Reflektieren über das, was war, und was möglich sein könnte

  • Öffnen für neue Möglichkeiten, für Lernen, für das, was entstehen will


Stattdessen hetzen wir. Wir reagieren. Wir füllen jede Lücke, jede Stille, jeden Moment.


Die Kosten der Betriebsamkeit: Wie wir bessere Ergebnisse gefährden

Hier liegt das Paradox: All diese Geschäftigkeit, dieses unermüdliche Tun, ist nicht nur erschöpfend – es gefährdet sogar bessere Ergebnisse. Es ist oft genau das, was besseren Ergebnissen im Weg steht. Wenn wir im Strudel von Aufgaben und To-Dos gefangen sind, verlieren wir den Blick für das große Ganze. Wir werden weniger kreativ, weniger sensibel für feine Veränderungen in unserem Umfeld und weniger anpassungsfähig.


Wenn wir zu beschäftigt sind, um innezuhalten, übersehen wir die Signale, die uns sagen, wann wir umdenken, loslassen oder innovativ werden sollten. Wichtige Gespräche werden im Sinne der Effizienz ausgelassen. Frische Ideen werden abgetan, weil „keine Zeit ist, sie zu erkunden“. Entscheidungen werden im Autopilot-Modus getroffen, wir recyceln alte Lösungen für neue Probleme, und aus Fehlern zu lernen wird verschoben – manchmal für immer. In unserem Drang, voranzukommen, laufen wir womöglich im Kreis oder, schlimmer noch, in die völlig falsche Richtung. Und am Ende erreichen wir vermutlich weniger, zumindest weniger von dem was wirklich zählt.


Ironischerweise ist es oft genau die Pause – der Moment der Reflexion, die Bereitschaft, Unsicherheit auszuhalten – die tiefere Einsichten, klügere Strategien und nachhaltigen Erfolg ermöglicht. Indem wir Raum schaffen zum Zuhören und Nachdenken, legen wir die Grundlage für bessere Entscheidungen, stärkere Beziehungen und Ergebnisse, die nicht nur schnell, sondern wirklich bedeutsam sind.



Der Mut, einfach zu sitzen

Visakhas Gedicht ist eine radikale Einladung:


Take care of whatever you have to take care of.
Then sit.
Be honest
Do you really think you're going to live forever?

[Kümmere dich um das, was du zu erledigen hast.

Dann sitze.

Sei ehrlich.

Glaubst du wirklich, du wirst ewig leben?]


Hier steckt eine stille Weisheit. Es geht nicht darum, Verantwortung abzulehnen, sondern ihr mit Bewusstheit zu begegnen. Zu handeln, ja – aber nicht aus Zwang oder Angst. Zu sitzen, zu atmen, die Welt - unsere Wirklichkeit - wahrzunehmen, wie sie ist, nicht nur, wie wir sie uns wünschen.


Denn, was wir oft verdrängen: Niemand von uns wird ewig leben. Unser Unternehmen wird nicht ewig existieren. Und vielleicht liegt genau in dieser Wahrheit die wichtigste Erinnerung: Unsere Zeit und Aufmerksamkeit sind kostbar – und nicht unendlich. Jeder Tag, den wir in endloser Geschäftigkeit verbringen, ist ein Tag, den wir von dem abziehen, was wirklich zählt: Verbindung, Lernen, sinnvolles Vorankommen und sogar Freude. Wenn wir uns unsere eigene Vergänglichkeit und die unseres Unternehmens bewusst machen, verliert der Drang, jeden Moment mit Aktion zu füllen, an Dringlichkeit. Die Einladung wird klarer: bewusster zu wählen, im Hier und Jetzt präsent zu sein und unsere Energie in die Dinge und Beziehungen zu investieren, die unsere Wirksamkeit entfalten und den Takt unserer To-Do-Listen überdauern.


Diese Perspektive ist auch im Unternehmens- und Organisationskontext von großer Bedeutung. Unternehmen, Teams und Führungskräfte sind genauso vergänglich wie das Leben von Einzelpersonen – ihre Zeit, Ressourcen und gemeinsame Aufmerksamkeit sind begrenzt. Wenn sich Organisationen in ständigem Aktionismus verlieren, verpassen sie Chancen für echte Innovation, tiefe Zusammenarbeit und nachhaltiges Wachstum. Die ständige Jagd nach schnellen Erfolgen und kurzfristigen Ergebnissen kann die langsamere, leisere Arbeit überdecken, die zu dauerhaftem Erfolg und einer gesunden Unternehmenskultur führt.


Wenn wir akzeptieren, dass weder wir noch unsere Organisationen für immer existieren werden, können wir den "Action-Kult" mutiger hinterfragen. Wir können uns – und unseren Teams – die Erlaubnis geben, innezuhalten, zu reflektieren und zuzuhören. Wir können uns darauf konzentrieren, Vertrauen aufzubauen, Lernen zu fördern und Entscheidungen zu treffen, die nicht nur den Anforderungen des Tages dienen, sondern dem langfristigen Wohl unserer Menschen und unseres gemeinsamen Zwecks.


Die Geschichte von „Nie genug Zeit“ ist ein Mythos, den wir uns erzählen, um der Unbequemlichkeit der Stille zu entkommen. Doch genau in dieser Stille kann etwas Wertvolles entstehen: Klarheit, Kreativität, Verbundenheit.


Und genau diese Qualitäten – Klarheit, Kreativität und Verbundenheit – sind es letztlich, die echten Fortschritt ermöglichen, sowohl im persönlichen als auch im kollektiven Kontext. Sie schaffen die Grundlage für neue Ideen, für mutige Entscheidungen und für ein Miteinander, das über bloße Koordination hinausgeht.


Wo Klarheit herrscht, können wir Prioritäten setzen und mutig Kurs halten.

Wo Kreativität Raum bekommt, entstehen innovative Lösungen für komplexe Herausforderungen.

Und wo echte Verbundenheit gelingt, wächst Vertrauen – die vielleicht wichtigste Ressource für nachhaltigen Wandel.


Fortschritt ist selten das Ergebnis reiner Geschäftigkeit, sondern entsteht, wenn Menschen mit sich selbst, miteinander und mit dem, was wirklich wichtig ist, in Kontakt kommen.


Vielleicht spürst du jetzt schon ein kleines Innehalten – eine leise Einladung, die gewohnte Geschäftigkeit für einen Moment zu unterbrechen und Raum für etwas Neues zu schaffen. Doch wie kann das im oft hektischen Alltag gelingen? Manchmal braucht es nur einen kleinen Impuls, um neue Erfahrungen zu ermöglichen.


Stille See
Stille See

Eine kleine Übung

Deshalb lade ich dich hier zu einem kleinen Experiment für deinen nächsten Arbeitstag ein:

  1. Erledige, was getan werden muss. (Ja, E-Mails, Anrufe, Meetings. Das Leben geht weiter.)

  2. Dann halte inne. Auch wenn es nur zwei Minuten sind: Laptop zu, Handy weg, einfach sitzen.

  3. Nimm wahr. Den Atem. Den Körper. Die Gedanken, die kreisen. Das Drängen, gleich wieder ins Tun zu springen.

  4. Frag dich: „Ist diese nächste Aktion wirklich nötig? Oder fülle ich nur Raum?“

  5. Hör zu. Dir selbst, deinem Team, dem, was entstehen will.




Vielleicht überrascht dich, was du in der Pause findest.

Vielleicht gibt es doch genug Zeit – nicht für alles, aber für das, was wirklich zählt. Für etwas, was nicht mehr nur ein "weiter so", sondern ein "was wäre wenn..." bedeutet. Stille ist nicht "Nichts". Keine Leere. Sie ist der Anfang von etwas wirklich Neuem.


Oder wie Bodo Janssen - erfolgreicher Unternehmer, Autor und Coach - es mit einem seiner Buchtitel ausdrückt: "Stille - weil nur in ihr Veränderung entsteht".





 
 
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